Wabi-Sabi

Wabi-Sabi Decaying flower

Wabi-Sabi und die Zwiebelvase

Wabi-Sabi Zwiebelvase
Imura-sans Holzofen in Toki
Imura-sans Holzofen in Toki

Wabi-Sabi – wie kann man dieses schwer zu fassende Konzept am besten erklären und was hat es mit Keramik zu tun?

Nach einiger Recherche sitze ich gerade an meinem Computer und habe gleichzeitig ein Gefäß im Blickfeld, welches ich vor längerer Zeit gemacht habe und die Zwiebelvase nenne… unglasiert sah sie nämlich tatsächlich wie eine rote Zwiebel aus, aus feinem lila-gräulichen Ton mit ganz feiner kleinen Körnung, die den Ton wie leicht aufgerissen aussehen ließ. Glasiert sieht sie nun wieder ganz anders aus… Nicht perfekt, nicht regelmäßig, auch nicht außergewöhnlich, eher verhalten… wieso gefällt sie mir dann so?

Weil ich sie selbst gemacht habe! Klar, aber viele meiner Kreationen üben bei weitem nicht so eine Anziehungskraft auf mich aus. Was ist es dann?

Ich denke es ist die Schlichtheit, die endlosen Möglichkeiten des zufälligen Musters der Glasur, die Lippe, die durch den kleinen Bruch an der Seite (Unachtsamkeit von mir beim Einräumen im Ofen…) auf einmal nicht statisch, sondern dynamisch erscheint und eine Geschichte erzählt. Auch die Form des Halses, mit der ich mich damals herumgeschlagen habe, aber welche ich jetzt durch die Unregelmäßigkeit der Form, und mit dem Glanz und der Üppigkeit der Glasur, als gelungen sehe.

Und wenn die Zwiebelvase perfekt wäre?

Nehmen wir einmal in unserem Zwiebelfall an, der Hals sei perfekt auf der Drehscheibe gedreht worden, die Glasur gleichmäßig, die Lippe regelmäßig, die Glasur vollkommen und knallig… hätte meine Zwiebel noch denselben Charme? Sie wäre auf jeden Fall perfekter und würde wahrscheinlich von vielen als schöner wahrgenommen werden. Wahrscheinlich würde ich sie auch bestaunen, oder besser gesagt ihre Perfektion bestaunen.

Aber würde sie mich berühren, in eine Art Kontemplation oder Konversation verwickeln, wenn ich sie betrachte? Vielleicht, wahrscheinlich aber eher nicht, denn ihre Perfektion würde keine Fragen aufwerfen oder meine Fantasie anregen. So würde diese Vase ihre Ausstrahlungskraft verlieren, mich nicht mehr an ihrer Lippe (wortwörtlich) hängen lassen, um ihre Geschichte gedanklich weiterzuerzählen.

Und so verstehe ich, auf meine Art, Wabi-Sabi. Diese Zwiebelvase eröffnet durch die Sensibilität ihrer Unzulänglichkeiten und ihrer Schlichtheit, die Möglichkeit einer Konversation. Das Konzept Wabi-Sabi ist grundlegend, um japanische Kunst und Keramik und darüber hinaus auch die japanische Kultur generell zu verstehen. Wabi-Sabi genau zu definieren ist allerdings eine größere Herausforderung, da es sich eher um eine subjektive Sensibilität handelt als eine förmlich festgelegte Definition oder Philosophie.


  1. Wabi-Sabi: ein Umriss der Sensibilität

Wabi-Sabi gilt als ästhetisches Konzept in welchem die Unvollkommenheit, die Vergänglichkeit und die Unvollständigkeit[1] des Lebens als Basis genommen werden. Diese Wörter haben einen negativen Anklang, dennoch ist Wabi-Sabi nicht negativ behaftet. Das rührt daher, dass es aus der Nicht-dualität es Buddhismus stammt. Aber zuerst zurück zur Definition von Wabi-Sabi:

 

Wörtliche Definition

Wabi-Sabi besteht aus zwei Wörtern, die im Wörterbuch[2] wie folgt definiert werden:

- Wabi 侘び

Einfach, rustikal, schlicht, urig, dezent, nüchtern, ungekünstelte Verfeinerung

- Sabi 寂び

Vergänglichkeit, Patina, antik, elegante Schlichtheit

Wabi-Sabi Kyoto Stone Path

Das Grundlegende Konzept

Als grundlegender Gedanke in Japan steht die Natur: Nichts in der Natur ist perfekt und die Natur kann nicht gezähmt werden. Daher ist das Streben nach Perfektion, wie wir in Europa es aus der klassischen Antike kennen, nicht das Ziel des Wabi-Sabi.

Vielmehr geht es darum, das Ungewöhnliche im Gewöhnlichen zu finden, oder die Schönheit, das Sehenswerte im Unvollkommenen, im Vergänglichen[3] zu finden.

Wie eine Therapie soll Wabi-Sabi uns dabei helfen, diese Fakten des Lebens zu akzeptieren und zu zelebrieren.

[1] Wabi-Sabi for Artists, Designers, Poets & Philosophers, Leonard Koren p7

[2] Jim Breen https://www.edrdg.org/cgi-bin/wwwjdic/wwwjdic?1C

[3]Wabi-Sabi for Artists, Designers, Poets & Philosophers, Leonard Koren p7

  1. Wabi-Sabi Ursprung: Zen Buddhismus und Teezeremonie

Zen Buddhismus

Wabi-Sabi findet seinen Ursprung im Zen Buddhismus und im Taoismus[1]. Schon zuvor gab es mit der nativen Shinto Religion eine enge Verbundenheit mit der Natur. Gefürchtet und geehrt zugleich in diesem Land was starken natürlichen Elementen ausgesetzt ist, bietet die Natur sich als Grundlage des Wabi-Sabi an. Natürlichkeit, Einfachheit, Vergänglichkeit prägen diese Ästhetik. So wird das Schöne im Vergänglichen, im Unvollkommenen, im Unvollständigen gesehen und geachtet. Darüber hinaus breitet sich auch die Idee der Genügsamkeit, der Bescheidenheit aus.

Ein weiteres Konzept des Zen Buddhismus, welches eng zusammenhängt ist Nicht-Dualität. Schönheit und Hässlichkeit sind zwei duale Konzepte. Nicht-Dualität, also die Abwesenheit von Dualität oder das nicht separate Unterscheiden von Schön und Hässlich, erlaubt es laut Zen Buddhismus frei zu sein, und somit Zufriedenheit zu erreichen[2] (dies ist eine sehr vereinfachte Darstellung, dieses Thema allein füllt an sich Jahrhunderte an Büchern!). So schreibt der Philosoph Yanagi Sōetsu[3] dass wahre Schönheit nur entstehen kann, wenn keine weitere Beabsichtigung dahinter liegt, sprich das Ego des Künstlers nicht dazwischenfunkt. Also, im Einklang mit sich und der Natur ist. Puuuhhh… nicht einfach zu verstehen, und wahrscheinlich noch schwieriger umzusetzen. Aber intuitiv macht es doch irgendwie Sinn, oder?

[1] Wabi-Sabi for Artists, Designers, Poets & Philosophers, Leonard Koren p31

[2] The Unknown Craftsman, Yanagi Sōetsu, p130

[3] The Beauty of Everyday Things, Yanagi Sōetsu

Wabi-Sabi Maple Leaf

Teezeremonie

Zurück zur Geschichte…

Die Geschichte der Teezeremonie – Chanoyu - ist komplex und eng mit der politischen Entwicklung im japanischen Mittelalter verwoben. Zu unserem Zweck hier werden wir nur die ästhetische Seite der Teezeremonie beleuchten.

Im 15. Jahrhundert wurde die Teezeremonie als wichtiges soziales und ästhetisches Zusammentreffen von allen Sinnen und Künsten von der Elite Japans gepflegt. Am Anfang waren noch die hochpreisigen, perfekten „Karamono“, importierte, “perfekte” chinesische Tee Utensilien höchst gepriesen. Ende des 15., Anfang des 16. Jahrhunderts kam es mit den Tee Meistern Murata Jukō (1423-1502) und dem bekanntesten aller Tee Meister Sen no Rikyū (1522-1591) zu einer neuen ästhetischen Orientierung, die die Prinzipien des Zen, als Grundlage nahm[1].

Mit dieser neuen Orientierung der Teezeremonie, dem Wabi-Chanoyu, wurde nun nicht mehr die Perfektion der Objekte zelebriert, sondern die Schönheit der einfachen Dinge. In Sachen Keramik wurde koreanische oder japanische Keramik, die eigentlich zum täglichen Gebrauch und somit nicht als Kunstwerk gedacht war aber dennoch eine intrinsische Schönheit durch ihre Imperfektion, ihre Schlichtheit und ihre Patina besaß, in höchsten Ehren gehalten.

Wabi-Sabi Ästhetik

Sen no Rikyū hinterließ so einen neuen Kanon für japanische Ästhetik. Ein weiteres Beispiel ist auch die Architektur der Teehäuser. Diese sollten sich nicht mehr prunkvoll gestalten, sondern schlicht, naturnah und unaufdringlich, um sich mit ihrer Umgebung zu verschmelzen. Diese kleinen, dunklen Räumlichkeiten sollten durch die verhaltene Wabi-Sabi Ästhetik einen Ort des Rückzugs ermöglichen.

Die Teezeremonie entwickelte sich so zu mehr als nur einem Networking Event, wie wir es heute nennen würden, mit ästhetischem Hintergrund. Sie entfaltete sich zu einem meditativen, kontemplativen Zusammenkommen, welches durch Wertschätzung und Akzeptanz der Natur und von dem Schönem, das uns umgibt - auch in den einfachen Dingen - Besinnung und Zufriedenheit bringt.

Später kam noch der Einfluss Oribe Furutas, einem Krieger und Tee Meister der in Sen no Rikyūs Fußstapfen trat und seine eigenen Ideen einbrachte … aber das ist eine andere Geschichte.

Mit all diesem theoretischem und historischem (sorry, vielleicht bin ich doch ein bisschen zu nerdy geworden) Hintergrund zum Konzept gewappnet, können wir uns jetzt der japanischen Keramik in diesem Zusammenhang widmen.

[1] Turning Point Oribe and the Arts of Sixteenth Century Japan, Miyeko Murase, Jun’ichi Takeuchi The Metropolitan Museum of Art, New York, p19
Wabi-Sabi Katsura Villa Tea house in green garden

  1. Wabi-Sabi und Keramik

Keramik besteht im Prinzip nur aus Erde, Wasser und mineralischen Elementen, die dann gebrannt werden (mit Feuer, Gas oder elektrisch). Als solches ist Keramik ein äußerst mit der Natur verbundenes Produkt. Tatsächlich zelebriert man in Japan die natürliche geologische Vielfalt und Komplexität des Tons, so wie man in Frankreich Terroir für Wein zelebriert. Auch die Tee Meister sahen in der Natürlichkeit der japanischen Keramik, welche weit mehr als die gepriesenen chinesischen Porzellanwaren den Ton an sich ehrt, die Grundlagen des Wabi-Sabi (mehr zu Tsuchi Aji hier!).

Wabi-Sabi: Fokus auf das Essenzielle

Repräsentativ für Wabi-Sabi ist z.B. Shigaraki, Iga oder auch Bizen als unglasierte Keramik, die überwiegend im Holzbrand gebrannt wird. Somit bleibt die Natürlichkeit sowie die Schlichtheit durch erdige, natürliche Farbtöne bestehen. Perfektion wird nicht erzwungen, sondern es wird der Natur und den Elementen eine gewisse Freiheit erteilt, die das Ergebnis umso tiefgründiger macht.

Wahre Wabi-Sabi Keramik definiert sich auch durch Schlichtheit der Form, der Dekoration. Alles unnötige wird weggelassen – wie Frank Llyod Wright schrieb: “Eliminating the insignificant”[1]. Allerdings muss hier die Balance gefunden werden, um eine gewisse Poetik oder Sensibilität und nicht etwas Steriles zu hinterlassen.

Wabi-Sabi: Form und Deformation

Deformationen in der Form durch natürliche Begebenheiten der Materialien oder durch den Entstehungsprozess, wie z.B. Einsacken beim Brennen oder kleine Explosionen von Feldspat, sind eigentlich Unzulänglichkeiten, die im Rahmen unserer europäischen Perfektionsästhetik als inakzeptabel gesehen werden könnten. Von einem Wabi-Sabi Standpunkt her, handelt es sich wiederum um Unvollkommenheiten oder Unvollständigkeiten, die den eigentlichen Charme des Objektes, als Reflektion der Natur und der Welt ausmachen.

Sind diese Unzulänglichkeiten allerdings krampfhaft erzwungen, dann bewegen wir uns außerhalb des Wabi-Sabi. Wahrscheinlich spricht uns das Objekt durch seine Unnatürlichkeit, seinen Mangel an Sensibilität auch nicht wirklich an[2].

Wabi-Sabi Yukinoura Kohiki Cup Crack detail

Wabi-Sabi: Patina und Vergänglichkeit

Letztendlich ist auch Vergänglichkeit als wichtiger Bestandteil in der Keramik unter verschiedenen Formen anzutreffen. Eine neue Schale entwickelt mit der Zeit eine Patina, welche sich durch Jahre des Gebrauchs verstärkt und somit eine neue Erscheinung bietet. Da wir so sehr an Neues gewohnt sind, kann diese Patina zuerst etwas abschreckend wirken, doch die Gebrauchsspuren sind auch ein Zeugnis unseres Lebens. Die Akzeptanz der Vergänglichkeit kann uns Schönheit in der Patina als Zeugnis der Zeit finden lassen. Oder lässt uns die Schönheit der Patina vielleicht die Vergänglichkeit leichter akzeptieren?

Es ist auch nicht überraschend also, dass gerade aus Japan die Kunst des Kintsugi kam, Kunst, die anhand von Lack und Gold- oder Silberpulver zerbrochener Keramik ein neues Leben einhaucht. Nicht nur wird so eine Keramik von der Müllhalde gerettet, sie erhält eine weitere Schicht an Komplexität, Geschichte und Charakter. Manchmal werden sogar komplett neue Kunstwerke daraus, die vorher in Vergessenheit geraten wären.

[1] The Book of Tea, Okakura Kakuzō

[2] The Unknown Craftsman, Yanagi Sōetsu

Keramik wird geboren, nicht erschaffen

In Konversationen mit Töpfern in Japan hört man oft, dass der Ton die Ansage macht, welches Gefäß, welche Form gestaltet wird. Man könnte fast meinen, dass in der Wabi-Sabi Philosophie, die Objekte geboren werden, nicht erschaffen[1].

Und genauso persönlich wie der Prozess der Entstehung ist, ist auch die „Konversation“ zwischen dem Objekt und dem Zuschauer. Jeder hat seine Sensibilität und jeder fühlt sich durch gewisse Elemente, gewisse Farben, Formen und Texturen angesprochen. Heutzutage ist es manchmal schwierig im Dschungel an visuellen Reizen, wo jeder versucht, lauter zu schreien, um gehört zu werden, wo alles noch größer, höher, außergewöhnlicher sein muss, um überhaupt wahrgenommen zu werden, etwas Ruhe und zu sich zu finden.

Genau das bietet die Wabi-Sabi Sensibilität an. Innehalten und in der Natur, in den manchmal vielleicht sogar unscheinbaren Dingen um sich, Schönheit und Zufriedenheit durch Wertschätzung zu finden. Zumindest ist das hier präsentierte Verständnis von Wabi-Sabi meine persönliche Interpretation aus der Erfahrung und den Büchern, die sich tiefgründiger damit beschäftigt haben.

Schlussendlich bleibt es eine eigene Erfahrung und damit wäre ich wieder bei meiner Zwiebelvase!

[1] The Book of Tea, Okakura Kakuzō

[2] The Unknown Craftsman, Yanagi Sōetsu

wabi-sabi gate with moss